URTEIL DES GERICHTSHOFES (Erste Kammer)
28. Mai 1998 (1)
„Steuerrecht Harmonisierung Umsatzsteuern Gemeinsames
Mehrwertsteuersystem Sechste Richtlinie 77/388/EWG Geltungsbereich
Lieferung von nachgeahmten Parfümeriewaren“
In der Rechtssache C-3/97
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom Court of Appeal
Criminal Division, London, in dem bei diesem anhängigen Strafverfahren gegen
John Charles Goodwin,
Edward Thomas Unstead,
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Sechsten
Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern Gemeinsames
Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl.
L 145, S. 1)
erläßt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Wathelet sowie der Richter
D. A. O. Edward und P. Jann (Berichterstatter),
Generalanwalt: P. Léger
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
von Herrn Goodwin und Herrn Unstead, vertreten durch Alan Newman,
QC, und Peter Guest, Barrister, im Auftrag von Solicitor Audrey Oxford in
bezug auf Herrn Unstead,
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Assistant
Treasury Solicitor John E. Collins als Bevollmächtigten im Beistand der
Barrister Stephen Richards und Mark Hoskins,
der griechischen Regierung, vertreten durch Fokion Georgakopoulos,
beigeordneter Rechtsberater im Juristischen Dienst des Staates, und
Anna Rokofyllou, Beraterin des stellvertretenden Ministers für Auswärtige
Angelegenheiten, als Bevollmächtigte,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Hélène
Michard und Barry Doherty, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Herren Goodwin und Unstead,
vertreten durch Alan Newman und Peter Guest, der Regierung des Vereinigten
Königreichs, vertreten durch John E. Collins im Beistand von Kenneth Parker, QC,
und Mark Hoskins, der griechischen Regierung, vertreten durch Fokion
Georgakopoulos und Anna Rokofyllou, und der Kommission, vertreten durch Barry
Doherty, in der Sitzung vom 15. Januar 1998,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. März
1998,
folgendes
Urteil
- 1.
- Der Court of Appeal Criminal Division, London, hat mit Beschluß vom 24.
Dezember 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Januar 1997, gemäß Artikel
177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Sechsten Richtlinie
77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern Gemeinsames
Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl.
L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
- 2.
- Diese Frage stellt sich in einem Strafverfahren gegen die Herren Goodwin und
Unstead, die angeklagt sind, Mehrwertsteuer beim Verkauf nachgemachter
Parfümeriewaren hinterzogen zu haben.
- 3.
- Nach den Akten des Ausgangsverfahrens ist Herr Goodwin angeklagt,
nachgemachte Parfümeriewaren gekauft und sie weiterverkauft zu haben, ohne in
das Mehrwertsteuerregister eingetragen zu sein. Herr Unstead ist angeklagt, an der
Herstellung, der Erzeugung, dem Vertrieb und dem Verkauf nachgemachter
Parfümeriewaren im Rahmen eines Unternehmens teilgenommen zu haben, das er
gemeinsam mit anderen Personen betrieb und das ebenfalls nicht in das
Mehrwertsteuerregister eingetragen war.
- 4.
- Der im ersten Rechtszug befaßte Inner London Crown Court ging davon aus, daß
die Sechste Richtlinie nicht die Erhebung von Mehrwertsteuer auf die Herstellung,
die Erzeugung, den Vertrieb und den Verkauf nachgemachter Parfümeriewaren
untersage; er hat daher die Herren Goodwin und Unstead für schuldig befunden,
gegen Section 72 (1) und (8) des Value Added Tax Act 1994
(Mehrwertsteuergesetz 1994) verstoßen zu haben.
- 5.
- Die Angeklagten legten gegen dieses Urteil Berufung zum Court of Appeal ein; zur
Begründung machten sie insbesondere geltend, daß das Gemeinschaftsrecht der
Erhebung von Mehrwertsteuer in einem Fall wie dem ihrigen entgegenstehe.
- 6.
- Der Court of Appeal ist der Ansicht, daß nach Gemeinschaftsrecht im Fall einer
entgeltlichen Lieferung nachgemachter Parfümeriewaren Mehrwertsteuer
geschuldet werde. Da er jedoch in dieser Beziehung einige Zweifel hegt, hat er das
Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage zur
Vorabentscheidung vorgelegt:
Fällt die Lieferung von nachgeahmten Parfümeriewaren unter die Richtlinie
77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Sechste
Richtlinie)?
- 7.
- Mit seiner Frage begehrt das vorlegende Gericht Auskunft darüber, ob die
Lieferung nachgemachter Parfümeriewaren nach Artikel 2 der Sechsten Richtlinie
der Mehrwertsteuer unterliegt.
- 8.
- Diese Bestimmung lautet:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen:
1. Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein
Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt;
2. die Einfuhr von Gegenständen.“
- 9.
- Nach ständiger Rechtsprechung beruht die Sechste Richtlinie, mit der eine
umfassende Harmonisierung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer angestrebt wird,
auf dem Grundsatz der steuerlichen Wertneutralität. Dieser Grundsatz verbietet
eine allgemeine Differenzierung zwischen erlaubten und unerlaubten Geschäften;
er gestattet sie nur in den Fällen, in denen aufgrund der besonderen Merkmale
bestimmter Waren jeder Wettbewerb zwischen einem legalen und einem illegalen
Wirtschaftssektor ausgeschlossen ist (insbes. Urteil vom 2. August 1993 in der
Rechtssache C-111/92, Lange, Slg. 1993, I-4677, Randnr. 16).
- 10.
- Die Herren Goodwin und Unstead meinen unter Berufung auf die Urteile vom 28.
Februar 1984 in der Rechtssache 294/82 (Einberger, Slg. 1984, 1177), vom 5. Juli
1988 in den Rechtssachen 269/86 (Mol, Slg. 1988, 3627) und 289/86 (Happy Family,
Slg. 1988, 3655) sowie vom 6. Dezember 1990 in der Rechtssache C-343/89
(Witzemann, Slg. 1990, I-4477), da kein legaler Markt für nachgemachte
Parfümeriewaren existiere, falle der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegende
Sachverhalt unter die erwähnte Ausnahme. Denn im Vereinigten Königreich sei ein
Vertrag über den Verkauf nachgemachter Parfümeriewaren nicht nur nichtig, weil
rechtswidrig, sondern er verletze auch eine große Anzahl von gewerblichen
Schutzrechten. Ferner beeinträchtige das Inverkehrbringen solcher
Parfümeriewaren das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erheblich, da der
Handel mit ihnen anders als der Handel mit Betäubungsmitteln niemals erlaubt sei.
- 11.
- In den Urteilen Einberger, Mol und Happy Family hat der Gerichtshof für Recht
erkannt, daß bei der unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in die
Gemeinschaft oder der unerlaubten entgeltlichen Lieferung gleichartiger
Erzeugnisse innerhalb eines Mitgliedstaats keine Mehrwertsteuerschuld entstehe,
wenn diese Erzeugnisse nicht Gegenstand des von den zuständigen Stellen streng
überwachten Vertriebs zur Verwendung für medizinische und wissenschaftliche
Zwecke seien. In dem Urteil Witzemann (Randnr. 20) hat der Gerichtshof
entschieden, daß seine zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln angestellten
Erwägungen erst recht für die Einfuhr von Falschgeld gälten.
- 12.
- In diesen vier Urteilen hat der Gerichtshof ferner festgestellt, daß rechtswidrige
Einfuhren oder Lieferungen von Waren der damals in Rede stehenden Art, deren
Einführung in den Wirtschafts- und Handelskreislauf der Gemeinschaft per
definitionem völlig ausgeschlossen ist und die nur Anlaß zu
Strafverfolgungsmaßnahmen geben können, zu den Bestimmungen der Sechsten
Richtlinie in keiner Beziehung stehen (Urteile Einberger, Randnrn. 19 und 20, Mol,
Randnr. 15, Happy Family, Randnr. 17, und Witzemann, Randnr. 19). Diese
Rechtsprechung gilt somit für Waren, die wegen ihrer besonderen Eigenschaften
weder in den Handelsverkehr gebracht noch in den Wirtschaftskreislauf einbezogen
werden können.
- 13.
- Dies ist jedoch bei den Waren, um die es im Ausgangsverfahren geht, nicht der
Fall. Wie die griechische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs
und die Kommission ausgeführt haben, handelt es sich nicht um Waren, deren
Vermarktung wegen ihres Wesens oder ihrer besonderen Eigenschaften untersagt
ist.
- 14.
- Wie der Generalanwalt in Nummer 22 seiner Schlußanträge ausgeführt hat,
verstoßen Geschäfte mit nachgeahmten Waren zwar gegen gewerbliche
Schutzrechte, doch steht das daraus folgende Verbot nicht im Zusammenhang mit
der Art oder den wesentlichen Eigenschaften dieser Erzeugnisse, sondern mit der
Beeinträchtigung der Rechte Dritter. Auch ist, wie die Kommission in ihren
Erklärungen ausführt, das Verbot, das sich aus der Verletzung gewerblicher
Schutzrechte ergibt, bedingt und nicht wie das Verbot von Betäubungsmitteln oder
Falschgeld absolut. Das Verbot nachgemachter Erzeugnisse, das auf der Verletzung
gewerblicher Schutzrechte beruht, reicht daher nicht aus, um den Handel mit
diesen Erzeugnissen vom Geltungsbereich der Sechsten Richtlinie auszunehmen.
- 15.
- Im übrigen ist, wie die Kommission ebenfalls ausgeführt hat, in einem Fall wie
demjenigen des Ausgangsverfahrens ein Wettbewerb zwischen nachgeahmten und
solchen Erzeugnissen, die sich rechtmäßig im Handel befinden, nicht
ausgeschlossen, da es einen rechtmäßigen Markt für Parfümeriewaren gibt, der
gerade von den nachgeahmten Erzeugnissen beeinträchtigt wird. Daher sind diese
Waren anders als Betäubungsmittel und Falschgeld nicht vom Wirtschaftskreislauf
ausgeschlossen.
- 16.
- Somit ist auf die gestellte Frage zu antworten, daß die Lieferung nachgeahmter
Parfümeriewaren nach Artikel 2 der Sechsten Richtlinie der Mehrwertsteuer
unterliegt.
Kosten
- 17.
- Die Auslagen der griechischen Regierung, der Regierung des Vereinigten
Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem
Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die
Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden
Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses
Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
auf die ihm vom Court of Appeal Criminal Division, London, mit Beschluß vom
24. Dezember 1996 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Nach Artikel 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977
zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die
Umsatzsteuern Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige
Bemessungsgrundlage unterliegt die Lieferung nachgeahmter Parfümeriewaren der
Mehrwertsteuer.
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 28. Mai 1998.
Der Kanzler
Der Präsident der Ersten Kammer
R. Grass
M. Wathelet